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EVANG. KIRCHENGEMEINDE ST. ILGEN


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Was heißt heute "Evangelisch sein"?

Als Abschluss unserer Reihe von Veranstaltungen im Reformationsjubiläumsjahr 2017 war der Prälat unserer evangelischen Landeskirche Baden, Dr Traugott Schächtele, am 16. November bei uns zu Gast. Nachdem die Veranstaltungen zuvor und auch der Reformationstag selbst stärker auf die Vergangenheit ausgerichtet war, sollte nun der Blick in die Gegenwart und nach vorne gehen.

Den tieferen Sinn des Gedenkens im Jahr 2017 sah Prälat Schächtele in der Überwindung theologischer Kontroversen, die die verschiedenen Kirchen seit der Reformation von einander entfremdet haben. Auf dem Weg dahin habe das Jubiläumsjahr als wichtiger Katalysator gewirkt, einen noch intensiveren Prozess der Begegnung zwischen den Konfessionen angestoßen sowie das Verständnis für die eigene Spiritualität geweckt. Er bedauerte jedoch, dass der Fokus dabei zu sehr auf das Verhältnis zur katholischen Kirche ausgerichtet gewesen sei, aber die kleineren aus der Reformation hervorgegangenen Freikirchen wie z.B. die Mennoniten viel zu kurz gekommen seien. Hieran müsse in Zukunft weiter gearbeitet werden.

Für die Begegnung mit den anderen Konfessionen (wie Religionen) sei es unerlässlich, das Bewusstsein für das eigene Profil zu schärfen, denn Christsein ohne konkreten Glaubensbezug sei nicht möglich. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender „Wahlmöglichkeiten“ im Glauben und einer zunehmenden Zahl von Menschen ohne jegliche religiöse Bezüge ist danach zu fragen, was es für Menschen lohnend machen könne, sich gerade mit unserer evangelischen Variante des christlichen Glaubens zu identifizieren.

Dazu regte Traugott Schächtele an, dass die Zuhörer/innen spontan äußern sollten, was ihnen einfalle, wenn sie den Begriff „Evangelisch“ hörten. Das Publikum nannte u.a. folgende Aspekte: Frauen im Amt des Pfarrers, Offenheit, Toleranz, die starke Stellung des Kirchengemeinderats aber auch oft nüchterne Gottesdienste und eine weltweite Zersplitterung, da es kein „einigendes Amt“ wie das des Papstes gebe.

Prälat Schächtele entwickelte daraufhin seine Definition von „Evangelisch-Sein“ entlang von 10 Thesen:

Evangelisch sein heißt:
1. selbst Theologe oder Theologin “sein”, also den Glauben nicht den „Fachleuten“ zu überlassen, sich selbst in die Entwicklung der Gemeinde einbringen und am Aufbau kirchlicher Strukturen mitzuwirken.
2. Christin oder Christ sein vor Ort, also selbst in basisnahen Strukturen den eigenen Glauben leben und so hierarchische Strukturen in den Gemein-den zurückzudrängen, aus dem Bewusstsein, dass gemeindliche und über-gemeindliche Funktionen sich gegenseitig ergänzen, aber keine Über- oder Unterordnung begründen.
3. sich in der Öffentlichkeit mit der eigenen profilierten Meinung als Christ einzubringen
4. Partei ergreifen vor allem für diejenigen in unserer Gesellschaft, deren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt sind
5. sich einzulassen auf die ganz konkreten Lebensumstände der Welt um uns herum, der eigenen Bürgerschaft (=polis), und sich damit auch in die politischen Prozesse einzumischen statt zuzuschauen und dazu zu schweigen
6. wandlungsfähig zu sein: Die äußere Wirklichkeit wandelt sich, Wertvorstellungen ändern sich, neue Einsichten werden gewonnen. Evangelisch sein bedeutet daher eben nicht das Festhalten an (angeblich) unveränderlichen Wahrheiten, sondern Antworten zu geben auf die Fragen der Menschen von heute.
7. fromm sein: Fromm meint nicht frömmelnd, sondern das zu tun, was einem selbst und anderen „zu Gute“ kommt. Dazu gehören Formen von Meditation und Bibelarbeit, aber eben auch das soziale Engagement.
8. offen sein - für neue Formen kirchlicher und gemeindlicher Existenz, für neue Gedanken und für Menschen anderer Prägung und Herkunft.
9. mit Vielstimmigkeit leben: In der evangelischen Kirche gibt es keine verbindliche Instanz, die entscheidet, was gute oder schlechte Lehre ist. Der Idee nach ist ihr Maßstab allein die Heilige Schrift sowie die Gemeinde. Was wirklich evangelisch ist, muss sich aber bewähren im Gespräch untereinander und auf Synoden, in Gottesdiensten und im Gebet.
10. ökumenisch sein. Nicht in Abgrenzung sind wir Evangelische Christen, sondern gemeinsam mit denen, die einer anderen Kirche angehören, fördern wir das Leben in seiner Vielfalt und möglichen Fülle.

In der Diskussion nach diesen Punkten wurde vor allem dieser ökumenische Aspekt des Evangelisch-Seins hinterfragt. Kann ich noch evangelisch sein, wenn ich - vermeintlich - von jedem etwas nehme? - so lautete eine Anfrage. Prälat Schächtele machte klar, dass genau dies ein Missverständnis von Ökumene sei. Es gehe nicht darum, einen großen Mischmasch anzurühren. Ich kann mit anderen nur in ein echtes Gespräch kommen, wenn ich meinen eigenen Glauben kenne. Erst dann kann ich die Gemeinsamkeiten erkennen und erst dann kann mich auch die Sicht anderer bereichern, statt das ich mich durch die Betonung der Unterschiede von anderen meine abgrenzen zu müssen.

Vielleicht ist das ein Problem unserer Zeit, dass wir den eigenen Glauben, die eigene Konfession gar nicht gut genug kennen, um in ein solches Gespräch eintreten zu können und wir deshalb meinen, das „Fremde“ so sehr ablehnen zu müssen.

Mir aber gingen vor allem die beiden ersten Punkte, die Prälat Schächtele nannte, noch eine Weile nach. Krankt unser Gemeindeleben ( in St Ilgen und anderswo) vielleicht daran, dass zu wenige unserer Gemeindeglieder selbst „Theologe“ sein wollen, also sich scheuen oder sich verweigern, sich in den Aufbau und die Weiterentwicklung der Gemeinde einzubringen, weil sie meinen, es sei nicht ihre Aufgabe und daher die Pfarrer/innen und die Kirchengemeinderäte mit dieser Aufgabe allein lassen?

Der wesentliche Unterschied zur katholischen Auffassung des Dienstes an der Welt jedoch ist das von Luther so genannte „Priestertum aller Getauften“. In der Taufe wird nach evangelischem Verständnis jeder in eine unmittelbare Beziehung zu Gott gesetzt. Die Konfirmation ist dann die auf Basis dieser unmittelbare Beziehung zu Gott folgende Berufung zum Christendienst an der Welt - in der Gemeinde wie in den politisch-gesellschaftlichen Strukturen.
Ist dieses Bewusstsein heute noch vorhanden?

Bericht: J. Geißler


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