2.3 Deutung der Fenstermotive Harry MacLeans

Durch diese Kompositionen der Einzelfelder ordnet MacLean einige schon biblisch verbundene Motive einander zu und schafft dabei auch überraschend neue Zusammenhänge.

Zu erwarten ist die Zusammenstellung von Weizen und Weinstock. Der christliche Subtext dieser beiden Motive verweist deutlich in die Abendmahlstradition.
Das Weizenkorn muss in die Erde gelegt werden und sterben, bevor es viel Frucht bringen kann (Joh 12,24). Mit diesen Worten bereitet Jesus seine Jünger auf seinen Tod vor, deutet aber auch an, dass dieser Tod nicht das Ende, sondern Voraussetzung dafür ist, dass seine Botschaft der Liebe Gottes viele neue Anhänger/innen hervorbringen wird.
Die enge Verbindung zwischen Weizen und Brot führt zu einer der Selbstbeschreibungen Jesu im Johannes-Evangelium: “Ich bin das Brot des Lebens” (Joh 6,35). Jesus identifiziert sich damit einerseits mit dem “Wort Gottes”, das den Hunger, die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtig-keit und Liebe stillt. Andererseits symbolisiert das gemeinsame Essen des Brotes im Abendmahl - neben anderem - das Erschaffen einer neuen Gerechtigkeit durch Vergebung bzw. Versöhnung sowie die Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit Gott. Die am Abendmahl Teilhabenden werden Teil am Leib Christi, indem sie diesen symbolisch im Brot in sich aufnehmen.

Ährenfeldmotiv
(Photo: JG)

In eine ähnliche Richtung verweist das Motiv des Weinstocks, welches das Wort Jesu aus Joh 15 widerspiegelt: “Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.” Auch hierin drückt sich die enge Zusammengehörigkeit zwischen Jesus und seinen Jüngern, Nachfolgern, uns Christen aus: Jesus will uns, den Reben am Weinstock, Kraft zufließen lassen, damit wir dazu fähig werden, die Liebe Gottes, zu deren Botschafter wir durch die Taufe erklärt werden, an Jesu Stelle weiterzugeben.
Auch dies wird im Abendmahl noch einmal symbolisch verdichtet: Jesus identifiziert den Wein im Abendmahl mit seinem Blut. Im antiken Weltbild ist das Blut der Träger der Lebenskraft von Mensch und Tier. Wenn wir in einem symbolischen Akt im Abendmahl “Blut Christi” zu uns nehmen, dann soll die Lebenskraft Christi auf uns übergehen, damit wir zu Taten der Liebe fähig werden. Zugleich symbolisiert das Trinken aus einem Kelch die Gemeinschaft all derer, die aus diesem Kelch trinken, so wie die Reben im Gleichnis / im Fensterbild alle an einem Weinstock hängen, also alle vom selben Wurzelstock ihren Saft, ihre Kraft gewinnen.

Auf der Zeitebene betrachtet zielt das Thema dieses Fensters auf unsere Gegenwart, auf unser Leben im Alltag. Das Abendmahl soll uns dafür die stärkende Wegzehrung sein.

Weinstock / Reben
(Photo: JG)

Während das östliche Fenster MacLeans also auch als Abendmahlsfenster bezeichnet werden kann, und dieses den Weltbezug des christlichen Glaubens herstellt - und zwar jeden Morgen neu, an dem die Sonne im Osten aufgeht, stellt das Westfenster den Bezug zu dem her, was unser Leben von Beginn bis Ende (Sonnenuntergang) umfasst - Leben angesichts von Vergänglichkeit.
Deutlich wird das in der Bezugnahme auf Psalm 90, ein Psalm, der in zahlreichen Bildern von der Vergänglichkeit spricht, davon, dass unser Leben, “wenn es hoch kommt, 70 oder 80 Jahre” währet, und jeden Tag vorbei sein kann.

Grünes Band mit Blumen
(Photo: JG)

MacLean symbolisiert die Vergänglichkeit geradezu paradox mit einem grünen blühenden Band. Deutlich sind auf dieser in satten Grüntönen changierenden Fläche bunte Felder (Blumen) eingefasst. Wie aber schafft MacLean hier die Verbindung zum Psalm, in dem doch davon gesprochen wird, dass dieses Grün ja nur vorläufig ist und dazu verdammt, bald zu verwelken und davon geweht zu werden?

Paralleles Lebensband
(Photo: JG)

Bei genauem Hinsehen wird dieses grüne Band von einem anderen Band berührt, ja parallel begleitet. Weiße, blass-rote und blass-blaue Feldern vereinen sich zu einem zweiten Band, in das große blaue Tropfen hineinfallen. Und darüber schwebt im Mittelfeld oben eine Taube, Symbol des Heiligen Geistes. Mithin ein Bild für das Geschehen in der Taufe.

Taubenmotiv
(Photo: JG)

Was MacLean uns mit dieser Komposition sagen will, scheint Folgendes zu sein: Im Wasser der Taufe wird unserem Leben eine neue Dimension hinzugefügt. Trotz aller Vergänglichkeit und mancher Vergeblichkeit kann der Heilige Geist, der uns in der Taufe verliehen wird, uns ein geistliches Wachstum verleihen, das uns innerlich reich macht, uns zur Blüte bringen kann trotz allem, was uns im Leben hindern mag. So wirkt das Band wie eine Oase mitten in der Wüste (für welche die fast farblosen, leicht gelblich-grauen Gläser unterhalb des grünen Bandes stehen mögen). Dieses grüne Band läuft am Ende in einer Bewegung nach oben, zum Himmel hin aus: Was in der Taufe angelegt wurde, im Leben durch das Vertrauen in die Liebe Gottes unsere inneren Wüsten zum Blühen gebracht hat, das wird vollendet in der Ewigkeit bei Gott. Die Taufe reißt also den Zeithorizont bis in die Ewigkeit bei Gott auf.

nach oben auslaufendes Band
(Photo: JG)

Zwischen diesen beiden Fenstern, welche die beiden Sakramente von Abendmahl und Taufe einander im Raum gegenüberstellen, liegt als verbindendes Element über der Empore das Fenster mit der Darstellung des himmlischen Jerusalems (siehe unten).
Das Band, das die Bewegung vom Abendmahlsfenster an das Tauffenster weiterreicht, wird von MacLean mit dem Wort Jesu verbunden: “Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.” (Joh 7,38)

Das himmlische Jerusalem
(Photo: JG)

Nicht zufällig steht dieses Fenster den Prinzipalien Altar, Taufstein, Kanzel und Kreuz gegenüber. Und nicht zufällig steht es zwischen dem Tauf- und dem Abendmahlsfenster. Denn es eröffnet uns den Zugang zu den Konsequenzen der Sakramente auf verschiedenen, einander ergänzenden Ebenen.
Es geht in der Komposition dieses Fensters um den Glauben, um das Leben aus dem Vertrauen in Jesus Christus. Dieses Thema wird gerahmt von Taufe und Abendmahl - Ausgangspunkt des Glaubensweges und Ermutigung auf diesem Weg. Der Glaube selbst aber kommt aus dem Hören auf die Schrift, wie der Apostel Paulus festhält.
Von der Kanzel aus - diesem Fenster gegenüber im Kirchenraum angeordnet - wird das Wort der Heiligen Schrift für unsere Zeit neu ausgelegt, um uns als von Gott geliebte Menschen Kraft, Mut und Selbstbewusstsein zu geben. Die Schrift wird ausgelegt für unsere Zeit, damit wir eine Orientierung für unser Leben heute erhalten. In der Predigt geht es letztlich um die grundsätzlichen Fragen unseres Lebens: “Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was kann ich hoffen?” (Immanuel Kant).

Grundrisszeichnung (über der Empore) mit Achsanordnung

Mit dieser von der Kanzel ausgehenden Orientierung korrespondiert das ihr gegenüber liegende Fenster. Wenn wir dem Zitat Jesu nachgehen, auf das sich die Ströme des lebendigen Wassers in der Fensterkomposition beziehen, dann können wir einen Textbezug auf eine Passage beim Propheten Jesaja finden. Im Textzusammenhang geht es um die richtige Art des Fastens. In einer Gottesrede stellt Jesaja klar, dass Fasten keine rein äußerliche Bußübung ist. Darum erschöpft sich Fasten nicht darin, in Sack und Asche zu gehen. Ein gottgefälliges Fasten sei vielmehr, dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen herrscht, dass Menschen aus Unterdrückung befreit werden, dass Notleidende Hilfe erhalten .... Ein solcher Mensch sei für die anderen wie eine Quelle, der es nie an Wasser fehlt (oder - wie Johannes formuliert - von dem Ströme lebendigen Wassers hervorgehen). So gesehen bezeugt das Fenster die ethische Dimension unseres Glaubens - “Was kann ich tun?”.

Detail himmlisches Jerusalem (Tore)
(Photo: JG)

Dieser ethischen Dimension gilt in der Komposition des Glaskünstlers Harry MacLean eine himmlische Verheißung. An diesem Strom des lebendigen Wassers liegt das himmlische Jerusalem. In der Offenbarung des Johannes wird uns diese Stadt beschrieben - mit kostbaren Juwelen geschmückt. Daran erinnern die bunten Farben, in denen die angedeuteten Gebäude im Fensterbild leuchten. Das himmlische Jerusalem ist von 12 Toren umgeben - 10 kann man direkt entdecken, die weiteren scheinen angedeutet. Doch erschöpft sich das himmlische Jerusalem des Johannes nicht in solchen Äußerlichkeiten. Gott wird bei den Menschen wohnen, “er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein” (Offb 21,4).

Vielleicht will der Künstler uns in der Zusammenstellung von himmlischem Jerusalem und den Strömen lebendigen Wassers, die von solchen Menschen ausgehen, die für Frieden und Gerechtigkeit sich einsetzen, Folgendes sagen: Dass im Einsatz von Christen gegen Unterdrückung und für die Notleidenden der Welt schon jetzt ein Abglanz dessen aufscheint, was uns in der Ewigkeit bei Gott versprochen ist. Dass durch uns als Christen, durch die Taufe beauftragt und im Abendmahl gestärkt, schon jetzt etwas vom Reich Gottes sichtbar werden soll (das Gott am Ende der Zeit in seiner Fülle verwirklicht) und dass Gott dabei an unserer Seite ist (”Was kann ich hoffen?”).

Diesem Gedanken entspricht, dass dieses Fenster räumlich zur Straßen hin gerichtet ist. Dahin gerichtet, wohin die Gottesdienstbesucher/innen nach dem Gottesdienst hingehen, wenn sie in die Welt zurückkehren. Das Fenster verweist uns also nach draußen, in unseren Alltag. Dorthin sollen wir mitnehmen, was wir im Gottesdienst gehört haben: Welche Konsequenzen unser Glaube an Gott für unser Leben im Alltag hat. Als wollte das, was von Kanzel und Altar ausgeht, seinen hellen Schein durch dieses Fenster hinaus in unsere Welt werfen.

Samenkörner
(Photo: JG)

Dem ordnen sich dann zu guter Letzt auch die Fenster unterhalb der Empore zu, die zunächst scheinbar nicht in den Zusammenhang des rundum laufenden Farbbands mit einbezogen sind. Auch sie ein Zeichen der Hoffnung. Ein Zeichen der Hoffnung, dass wir Menschen, wir Christen, zu einer Entwicklung fähig sind. Im Leben hier und im Leben in seiner Dimension bei Gott.

Sie liegen unter der Empore wie unter der Erdoberfläche - die Samen. Es sind die Samen des Glaubens, die Gott durch Jesus in uns ausgestreut hat (Matth 13,1-9: Gleichnis vom Sämann). Noch ruhen sie in der Erde. Es steht noch dahin, was aus ihnen werden wird. Ob aus ihnen Hoffnung keimt, ob Liebe. Ob sie in verwandelter Gestalt hinein in Gottes Ewigkeit keimen. Ob durch sie etwas vom Reich Gottes sichtbar wird, wie es sich im Fensterbild über der Empore als großes Hoffnungsbild entfaltet.

Und so erweist sich nach dem Verlust der alten Fenster durch die Einwirkungen des Kriegs und das Unvermögen der 60er Jahre, die ursprüngliche Einheit des Jugendstilensembles zu bewahren, die Wahl von Harry MacLean als ein Glücksgriff. Mit seiner Komposition der Motive der Glasfenster gelingt es ihm einerseits, auf die Anlage des Kirchenschiffs eine Antwort zu finden, indem er zwei Achsen schafft - eine sakramentale und eine den Glauben und den Alltag verbindende -, und sie andererseits untereinander “kreuzförmig” in Beziehung zu setzen.

Erläuterung zu den Fenstermotiven aus Harry MacLeans eigener Feder

Kopie des Schreibens von Harry MacLean
(Archiv der Evang. Gemeinde St. Ilgen)

Transskription:

Die aus dem (Jugendstil-) Bau sich ergebende große Zersplitterung der Fensterflächen(,) bedurfte einer ausgesprochenen Zusammenfassung durch eine farbig herausgehobene Bandform. Diese zieht sich als “Ährenfeld”, als “Strom des lebendigen Wassers” (Offb. Joh.) und als “Gras, das frühe blüht ... und Abends abgehauen wird” (90. Psalm) (,) durch die 3 Hauptfensterfelder.

Dem Wunsch der Gemeinde folgend sind diesem Hauptkompositionsmotiv entsprechende Darstellungen zugeordnet.

Der “Weinstock”, das “himmlische Jerusalem”, die Taufe mit dem heiligen Geist.

Die kleineren, getrennt unter der Empore liegenden Fenster wurden mit dem “Samenkornmotiv” geschmückt.

Diese Themen dürften einer Gemeinde, die in vorwiegend ländlicher Gegend liegt, ohne weiteres verständlich und vertraut sein.

Harry MacLean

 

 
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