Geistliches Wort zu Erntedank

Liebe Gemeinde,
während Sie diesen Gemeindebrief in Händen halten, ist Erntedank wohl gerade vorbei. Und während ich diese Zeilen schreibe, also einige Wochen vor Erntedank, sind es ganz andere Bilder und Gedanken, die mich begleiten - und Sie vermutlich auch.
In diesem Jahr kamen und kommen so viele Heimatvertriebene wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr und suchen neue Heimat bei uns. Vertrieben, geflohen vor Bürgerkriegen, politischer und religiöser Unterdrückung und Perspektivlosigkeit.

Sie kommen in ein Land, in eine Weltregion, die ihnen als „Paradies“ erscheint, denn „etwas Besseres als den Tod find'st Du überall“. In Zeiten weltweit verfügbarer Medien ist das ja auch kein Wunder, wenn diese Menschen tagtäglich im Internet und im Fernsehprogramm sehen, wie wir hier leben, und sie ihr eigenes Leben damit vergleichen: Der „Arabische Frühling“ ist dem "Winter" gewichen, die alten oder neue Diktaturen sitzen wieder fest im Sattel. Hier bei uns dagegen herrschen die Verlockungen des Wohlstands und auch das: die Versprechungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Eigentlich ein Grund für uns, dankbar zu sein, dass diese Menschen zu uns kommen wollen.

Klingt diese Bemerkung jetzt zynisch für Sie? Doch, ich glaube schon, dass angesichts der Vielzahl an Flüchtlingen, die bei uns Zuflucht suchen, dass bei allen Problemen, die daraus entstehen (und dazu später im Folgenden), dies zunächst ein Grund für uns ist, dankbar zu sein. Denn für uns ergibt sich daraus doch die Erkenntnis, dass Menschen in aller Welt merken, wie sicher das Leben bei uns ist, dass hier Menschenrechte für alle gelten, dass man hier ohne Unterdrückung leben kann, - und sie deshalb zu uns wollen. Denn: Wo auf der Welt gibt es das denn noch?! Naja, es gibt schon noch ein paar solche Weltregionen; aber der größte Teil der Weltbevölkerung muss ohne diese grundlegenden Errungenschaften leben. Gerade an Erntedank sollten wir als Christen in Europa daran voll Dankbarkeit denken.

Aber vielleicht sind manche unter uns auch gestrickt wie der Landwirt aus dem Gleichnis von Jesus (Luk 12)? Der lieber seine eigenen Scheunen füllt und auch noch die Nachlese von den Feldern holt, die eigentlich für die Armen liegen bleiben soll. Und dafür noch größere Scheunen braucht, damit er sich dann voll Stolz zurücklehnen kann mit den Worten: Liebe Seele, magst ruhig sein ….

Für Jesus ist das ein wenig armselig, denn wer weiß schon, wer diesen Profit dann vervespert, wenn ich morgen tot bin, und welchen „Gewinn“ mir das eigentlich im Blick auf Gottes Liebe bringen soll …

Nein, ich will mit diesem Gleichnis von Jesus nicht moralisieren, und ich will auch nicht die Ängste kleinreden, die manche unter uns angesichts der Massen von Menschen beschleicht, die bei uns Zuflucht, Überlebensmöglichkeiten, Lebenschancen suchen: Ob es denn reicht für alle; ob aufgrund der Kosten nicht Projekte auf die lange Bank geschoben werden müssen, die wir in Deutschland für unsere Zukunft brauchen; was es mit dem Aggressionspotential eines eher geringen Teils der Flüchtlinge auf sich hat; wie sich durch die Flüchtlinge und ihre Lebensweise auch für uns Änderungen ergeben, Einschnitte in lieb gewordene Freiheitsrechte und Lebensgewohnheiten usw … - Nein, wir müssen diese Ängste ernst nehmen und darüber ins Gespräch eintreten.
Da reicht es auch nicht, einfach zu behaupten „Wir schaffen das!“. Das mag zwar ein gut gemeinter Appell sein, aber wir müssen schon realistisch betrachten, was geschieht. Probleme, die mit dieser Situation einhergehen können, lösen sich ja nicht von selbst.

Aber wir können uns auch nicht abschotten. Wie sollten wir das auch tun? Den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer die Boote unter dem Hintern versenken und sie ertrinken lassen, um die nächsten Flüchtlinge abzuschrecken? Mauern an den Grenzen errichten und Zäune wie in Ungarn und das Problem dann ins nächste Nachbarland verlagern? Davon werden sich die Flüchtlinge nicht abhalten lassen, und an den politischen Abschottern wird Europa zerbrechen, wenn jeder die Flüchtlinge nur als Problem des nächsten Nachbarn weiter südlich ansieht.

Nein, wir sind in Europa schon gemeinsam verantwortlich, wir haben auch alle gemeinsam den vorhandenen Problemen viel zu lange zugesehen: Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun schon über vier Jahre, die Kämpfe in Afrika um die Kontrolle der Rohstoffe gar Jahrzehnte. Und solange die Flüchtlinge weitgehend im Süden blieben, war es dann das Problem Italiens und Spaniens, Schengen sei “Dank”.

Die Ängste vor den Massen an Flüchtlingen mögen bis einem gewissen Maß berechtigt sein, manche sprechen von Völkerwanderung. Wenn wir die Situation jedoch nur beklagen oder die Sorgen in Verbitterung, Hass und Gewalt umschlagen, werden die Probleme nicht kleiner, sondern eher größer. Aber auch ich bin überzeugt, wir können das schaffen (um die Aussage der Kanzlerin zu modifizieren). Die Frage ist nur: Wie?

Willkommenskultur scheint dafür die Lösung der Stunde. Gut möglich. Dann allerdings nur, wenn Willkommenskultur mehr ist, als nur abgelegte Kleidung und gebrauchtes Spielzeug zu spenden. Echte Willkommenskultur ist eine langfristige Aufgabe: Es gilt einen Prozess in Gang zu setzen, der davon lebt, dass wir uns den Menschen, die kommen, auch wirklich zuwenden - und dies mag für manche/n unter uns auch unbequem werden.


Evangelische Gemeinde Borken - Photo privat - hna.de


Wenn Menschen auf der Flucht erleben, dass sie über alle kulturelle Unterschiede hinweg in ihrer Not ernst genommen werden, wenn sie zur Ruhe kommen dürfen, dann kann das Herzen füreinander öffnen. Wenn Menschenrechte und demokratische Spielregeln für uns nicht nur Schönwetterparolen sind, dann kann es den Menschen, die zu uns kommen, selbst zum eigenen Anliegen werden, dass dies auch weiterhin in ihrem Gastland gilt. Und dann gibt es auch eine Chance, dass diese Menschen Respekt gegenüber den Spielregeln des Zusammenlebens entwickeln, die bei uns gelten, und sie sich gegen Extremisten abgrenzen, die diese zerstören wollen. Denn klar ist ja, dass viele von ihnen zwar Sehnsucht nach gesellschaftlichem Frieden haben, aber nur wenig Erfahrung im Umgang damit.

Um solch einen Prozess in Gang zu setzen, reicht es aber nicht aus, aneinander vorbei zu leben. Eine „Toleranz“ ohne Dialog führt in die Sackgasse. Wo jeder für sich bleibt, wächst das Unverständnis und die Verbitterung übereinander. Darum wird es nötig sein, auf die Menschen zuzugehen, diejenigen, die sich einladen lassen, einzuladen, zuzuhören, all die Schicksale und all das Elend wahrzunehmen, sich anrühren lassen, verstehen, warum sich Menschen wie verhalten.

Dass dies ein unbequemer Weg ist und manchmal auch ein (mit)leidvoller, wird jeder nachvollziehen können, der schon einmal das Leid eines anderen auf sich hat wirken lassen und darauf reagieren musste. Wenn jedoch auf diese Weise Verbindungen wachsen zwischen uns Menschen unterschiedlicher Herkunft, dann ist es auch möglich, gemeinsam Zukunft für unser Zusammenleben zu gestalten.

Die deutsche Zivilgesellschaft kann nicht die ganze Welt retten, auch das ist klar. Wir werden über unsere Kapazitätsgrenzen reden müssen. Doch zugleich dürfen wir die Menschen, die hierher gekommen sind, die vor dem Elend ihrer Welt keine andere Rettung wussten, als einen Weg nach Deutschland zu suchen, nicht mit ihrem Schicksal allein lassen. Sie sind ja inzwischen da. Und sie sind als meine Nächsten Gottes „Kind(er) wie ich“ (EG 412). Alles andere mündet in unsere eigene Ent-Menschlichung.

Du bist der Nächste für jeden, der Deine Hilfe braucht, stellt Jesus klar, als er gefragt wird, wer denn der Nächste sei, dem man nach Gottes Geboten zu Hilfe verpflichtet ist (im Gleichnis vom barmherzigen Samariter).

Das Erntedankfest erinnert uns daran, dass der Wohlstand, den wir erwirtschaften, nicht nur unserem eigenen Können und Wissen zu verdanken ist, sondern Quellen außerhalb hat, Voraussetzungen, die wir nicht geschaffen haben. Dafür danken wir Gott an Erntedank. Und da der Dank an Gott kein leeres Gerede bleiben soll, geben wir von unserem Überfluss jenen Menschen weiter, die ausgeschlossen sind von den Gütern der Welt.

Daran denke ich an diesem Erntedankfest angesichts der Flüchtlinge in unserem Land besonders.

Mit freundlichen Grüßen
Jörg Geißler, Pfarrer




Und hier noch Links auf eine Datei und auf ein Video, die zum Thema passen:


Gemeinsame Stellungnahme der Bischöfe der EKD-Gliedkirchen

Merkel zur Angst vor einer Islamisierung Deutschlands in Bern:
https://www.youtube.com/watch?v=xCdMvJaMCj8

 

 
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