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EVANG. KIRCHENGEMEINDE ST. ILGEN


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Evangelische Theologie im Ersten Weltkrieg

Parallel zur Einweihung unserer Kirche im Jahr 1916 fanden einige der härtesten und erbittertsten Schlachten des Ersten Weltkriegs statt. So begann am 21. Februar 1916 die Schlacht um Verdun, die am 19. Dezember ohne nennenswerte Frontverschiebung endete - und in deren Verlauf ca 350.000 Menschen ihr Leben ließen und ca 600.000 verwundet wurden.

Wie verhielt sich die Kirche zu diesem sinnlosen Gemetzel? Das war die Frage im Hintergrund des Vortrags von Dr. Hendrik Stoessel, Theologischer Referent der Melanchthon-Akademie Bretten, der am 20. September Gast unserer Kirchengemeinde war. Ausgehend von und im Kontrast zu den friedensethischen Äußerungen der EKD und der Evang. Landeskirche in Baden heute, stellte er den staatskirchenrechtlichen Status der Kirchen während des Ersten Weltkriegs dar, der den Rahmen für die Äußerungen von Kirche und Pfarrern bildete und von dem aus diese erst zu beurteilen sind.

Offizielle oder kirchenamtliche Äußerungen aus dieser Zeit scheinen bei einem oberflächlichen Blick zunächst zu fehlen. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn die Landesfürsten und der Kaiser an der Spitze galten damals ja zugleich als höchste Repräsentanten der Kirchen. Der Kaiser verfasste Kanzelerklärungen und Gebete für den Gebrauch im Gottesdienst. Und so wurde der Kaiser dann auch von seinem Volk als oberster Bischof der Kirche gehört und verstanden. Eine enge Verzahnung von Politik und Kirche, wie sie heute - Gott sei Dank - bei uns im Westen kaum noch möglich ist. Denn heute versteht sich die Kirche im Gegenüber zum Staat doch stärker als prophetischer “Widerpart”, der den Staat an seine Pflichten gegenüber den Bürger/innen erinnert.

Damals war das anders. Insbesondere die falsch interpretierte und manipulativ verfremdete Zwei-Reiche-Lehre Luthers leistete einer verbreiteten Obrigkeitshörigkeit gewaltigen Vorschub. So konnte 1917, im Jahr des 400. Jubiläums der Reformation, Luther als Urbild des Deutschen aufgebaut, sein Widerstand gegen Rom in Durchhalteparolen für den Kampf gegen den (katholischen) französischen Erbfeind umgemünzt und so die Reformationsfeierlichkeiten insgesamt zu Kriegspropaganda missbraucht werden.

“Treues Festhalten an den Gütern der Reformation verbürgt auch treues Festhalten an Kaiser und Reich und die Kraft zum siegreichen Durchhalten auch im furchtbarsten Weltkrieg der Weltgeschichte...“ - so der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss in einer Grußadresse zum Geburtstag des Kaisers 1917. - An verschiedenen weiteren Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sowie Äußerungen kirchlicher Institutionen konnte Dr Stoessel die enge Verquickung zwischen Thron und Altar aufzeigen.









Besonders eindrücklich waren die Reproduktionen von religiösen Feldpostkarten jener Zeit - Darstellungen, in denen Soldaten sozusagen als inkarnierte Wiederkehr Christi auf Golgatha stilisiert wurden oder Kirchenlieder in Hassgesänge wahlweise gegen Frankreich oder England umgedichtet wurden.













Die Stimme des Pazifismus in den Kirchen (oder ihrem Umfeld) war vergleichsweise leise. Bertha von Suttner mag manchen unter uns noch ein Begriff sein, die deutsche Trägerin des Friedensnobelpreises 1905 starb jedoch schon vor dem Ausbruch des Kriegs. Wenig bekannt dagegen der Leipziger Pfarrer Georg Liebster, der beklagte, es sei im „religiösen Kriegsfuror“ jedes Verständnis für Jesus, Demut und Feindesliebe erloschen. Im verbreiteten Beten um den Sieg der deutschen Waffen erkannte er einen „Schlag gegen die Jesusreligion“.

Als vielleicht wichtigsten Kontrapunkt zur allgemeinen Kriegsbegeisterung auch in den Kirchen bezeichnete Dr Stoessel die Gründung des Internationalen Versöhnungsbundes am Tag des Kriegsausbruches in Konstanz, das so genannte Konstanzer Friedenskonzil:
“Während die Welt sich taub und heiser schreit in ihrem Willen zum Krieg, artikulieren die Konstanzer Delegierten unter Gebet und dem Hören auf Gottes Wort einen internationalen Willen zum Frieden. Dass Friedrich Siegmund-Schultze (Baden) und Henry Hodgkins (Quäker, England) beim Abschied einander in die Hand versprachen, Krieg und Gewalt nicht zu rechtfertigen noch sich gegeneinander aufhetzen zu lassen, ging im Kanonendonner unter. Aber es blieb gesagt. Als Verpflichtung wie als Zeugnis - wirksam bis in unsere Tage -, dass einzelne Menschen gegen den Strom geschwommen sind. Sie haben nicht nachgelassen, dem Wort Jesu zu folgen, das die Friedfertigen selig preist und Gottes Kinder nennt.”

Zum Ende seiner Ausführungen machte Dr Stoessel anhand des Glaubensbekenntnisses deutlich, gegenüber welchen Glaubensartikeln die Kirche damals versagt hat und welches Potential zum Widerstand gegen jede Kriegsrhethorik bis heute im Glaubensbekenntnis steckt.

Im anschließenden Nachgespräch wurde erkennbar, dass auch heute der Widerstand gegen politische Fehlentwicklungen stets auf die Initiative von Einzelnen angewiesen ist, die die Kraft haben müssen, sich dabei auch dem “Zug der Zeit” entgegenzustellen.

Bericht und Photo: Jörg Geißler
Reproduktion Feldpostkarten:


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