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Gedanken zur Passions- und Osterwoche

Liebe Leserinnen und Leser,
werte Gemeindeglieder,

es ist ja nicht einfach für uns alle, in diesen Zeiten von Corona. Bedauerlich, dass wir unsere Lieben nicht einfach besuchen und in den Arm nehmen können. Die Einschränkungen im öffentlichen Leben. Die Freiheit, tun und lassen zu können, was wir „wollen“ (klar, soweit im Rahmen der Gesetze), auch die - befristet genommen.

Umso schlimmer, wenn Menschen aus unserem Bekannten-, Verwandten- und Freundeskreis dann tatsächlich durch Corona infiziert werden. Und womöglich sterben. Dann ist es uns noch nicht einmal erlaubt, von Ihnen im gewohnten Rahmen Abschied zu nehmen. Kein öffentlich zugänglicher Gottesdienst auf dem Friedhof, bei dem wir anderen den Angehörigen als Freunde, Bekannte, Nachbarn beistehen können, damit sie in ihrer Trauer nicht allein sind.

Aber auch das normale Gottesdienstleben ist zum Erliegen gekommen. Auch da, wo ich sonst Trost und Gottes Zusage bekomme, dass er mein Leben begleitet, mich nicht allein lässt – diese persönlich zugesprochene Zusage, das gemeinsame Gebet, das Hören auf Gottes Wort – all das fehlt uns jetzt. Schwer vorstellbar, gerade auch um unser christliches Hochfest – die Passionswoche und Ostern – kaum zu ertragen. Auch wenn uns allen (hoffentlich) klar ist, dass nur auf diese Weise unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt werden kann, denn anders würden wir ein massives Sterben unserer Alten und Kranken riskieren.

Doch ich möchte jetzt nicht auf Detailfragen rund um Corona eingehen, das können die Mediziner, Ethiker und Finanzexperten besser. Vielmehr möchte ich Ihnen ein paar tröstende Gedanken mitgeben in diesen seltsamen Zeiten.

Dazu möchte ich mir mit Ihnen zusammen ein berühmtes Kunstwerk ansehen, das sicher eine ganze Reihe von ihnen auch schon im Original gesehen haben, im Musée d’Unterlinden in Colmar – den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (Gemälde) und Nikolaus von Hagenau (Schnitzarbeiten). [Falls Sie noch nicht dort waren: Besuchen Sie das Museum doch einmal, wenn die Kontaktsperren und Reisebeschränkungen wieder aufgehoben sind].

Die Schauseite für den Alltag zeigt die Kreuzigung Jesu – mit Johannes, der auf ihn hinweist. Seht auf ihn! – so fordert uns Johannes der Täufer auf. Für manche ein schwer erträgliches Bild. Schon in der bloß gedanklichen Vorstellung hat eine Kreuzigung ja etwas sehr Brutales an sich. Aber die Realität, der Umgang von Menschen mit Menschen, ist ja leider durchaus öfter so. Siehe die Außengrenzen Europas zu Zeiten der immer noch anhaltenden Flüchtlingskrise. Nicht nur der gekreuzigte Christus des Matthias Grünewald ist ein schwer erträgliches Bild.

Doch die Darstellung der Kreuzigung wendet unseren Blick auf ein ganz anderes Leiden. Es handelt sich nicht um das realistische Abbild einer Kreuzigung. Der Körper Jesu trägt nicht allein die Wundmale der Geißelung, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Diese unendlich vielen kleinen Wunden auf seinem Körper bluten auch nicht, wie die Seitenwunde oder die Nägelmale. Dieser Jesus hängt mit den Symptomen einer Mutterkornvergiftung am Kreuz. Dafür stehen die krampfhaft gespreizten Finger seiner angenagelten Hände, die Farbe des Leibes und eben diese winzigen Verletzungen, die für den inneren „Brand“ eines durch den Mutterkornpilzes vergifteten Menschen stehen. Aufgrund des Gefühls, innerlich zu verbrennen, wurde die Mutterkornvergiftung auch „Antoniusfeuer“ genannt.

„Die Krankheit wurde durch den Verzehr von Roggen ausgelöst, der von Claviceps purpurea, einem schwarzen, bis zu 2 cm langen, am Roggen als Schmarotzer gedeihenden Schlauchpilz, befallen war. Die von diesem Pilz produzierten Alkaloide wirken gefäßerweiternd und finden in geringen Dosen u. a. zur Beschleunigung der Nachgeburtsausstoßung Anwendung; aber die tägliche und fortgesetzte Aufnahme durch die Nahrung führt zu einer chronischen Vergiftung, deren Symptome mit Kribbeln der Haut, Schwindel, Ohrensausen, Erbrechen, Durchfällen beginnen und über Sehstörungen und Krämpfe bis zum Brandigwerden einzelner Körperglieder führen.“ (vorstehender Abschnitt aus dem Ökumenischen Heiligenlexikon).

In einer Zeit, als die Ursachen dieser Krankheit noch unbekannt waren und viele Menschen v.a. in Mitteleuropa darunter litten, hatte dieses Gemälde eine seelsorgerliche, tröstende Dimension.

Der Isenheimer Altar war eine Auftragsarbeit für die Klosterkapelle des Hospizes in Isenheim, wo an Mutterkornvergiftung Erkrankte durch Angehörige des Antoniterordens gepflegt wurden. Der Altar, der in den Jahren 1512-16 errichtet wurde, stand auf einem Podest und ragte bis zur Höhe von acht Metern auf, gut zu sehen durch die Kranken, deren Betten teilweise in der Kapelle standen. Der ausgestreckte Finger des Johannes fordert die Kranken auf: "Seht! Christus hatte vergleichbare Leiden wie ihr zu tragen. Doch Gott ist ihm in seinem Leiden treu geblieben, war bei ihm und hat ihn durch die Auferstehung zu sich in sein Reich aufgenommen". Oder sogar: Gott selbst hat in ihm Eure Leiden mitgetragen.

Der Blick zum Kreuz signalisiert den Kranken: Du bist nicht allein mit Deiner Krankheit, Gott ist bei Dir. Und wenn Du schon nicht irdisch genesen kannst, so wird er Dich zu sich in die Geborgenheit bei ihm aufnehmen. Mit diesem Bild der Kreuzigung, das Jesus mit den Merkmalen einer Mutterkornerkrankung zeigt, kann sich der Kranke direkt mit ihm identifizieren.

Vielleicht kann dieses Gemälde auch für uns in Zeiten von Corona eine tröstende Wirkung entfalten?! Der wir – bei allen notwendigen Anstrengungen, die ihre Wirkung erst nach und nach entfalten werden – doch als Einzelne relativ hilflos gegenüberstehen. Ähnlich wie die Menschen damals, denen nichts blieb als die Demut angesichts einer übermächtigen Natur und die Dankbarkeit für das Leben, das sie zuvor hatten führen dürfen (natürlich im damals „gültigen“ Rahmen) und die Dankbarkeit danach, wenn man die Krankheit überstanden hatte.

Auch eine weitere Dimension des Leidens an einer nicht oder nur schwer behandelbaren Krankheit zeigt der Isenheimer Altar. Er besteht ja aus mehreren Tafeln, die je nach Abschnitt des Kirchenjahres die „Alltags“Seite der Kreuzigungsszene ersetzen konnten. Man spricht auch von „Wandelbildern“. Eines der Wandelbilder zeigt links die Verkündigung an Maria und das Engelskonzert, rechts die Menschwerdung Gottes in Jesus und seine Auferstehung.

Ein weiters Wandelbild zeigt zwei Szenen aus dem Leben des Heiligen Antonius, des Vorbildes der Mitglieder des Antoniter-Ordens. Die linke Hälfte widmet sich dabei der so genannten „Versuchung“ des Antonius, vergleichbar auch der Versuchung Jesu in der Wüste.

Antonius der Große wurde 250 in Ägypten geboren. Er war ein Sohn einer reichen, christlichen Landwirtsfamilie. Mit 18 übernahm er nach dem Tod seiner Eltern die Verwaltung der Familiengüter und zog seine jüngere Schwester groß.

Sätze Jesu aus dem Matthäusevangelium veränderten sein Leben: Wenn Du vollkommen sein willst, dann verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen. (19, 21) und Sorget euch nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. (6, 34)

Ab 275 lebte er als Einsiedler und Asket. Vor dem Andrang von Verehrer/innen, die von ihm Heilung von Krankheiten erwarteten, zog er sich in eine einsam gelegene Grotte am Berg Kolzim bei der heutigen Ortschaft Zafarana zurück. Um 311 ging er nach Alexandria, um die von Kaiser Maximinus verfolgten Christen zu ermutigen. Er setzte sich für Arme und die Gefangenen ein und stand mit Kaiser Konstantin in Briefkontakt.

Die Versuchungen des Antonius beziehen sich auf die Entbehrungen seiner Lebensweise – sexuelle Enthaltsamkeit, das Fehlen familiärer Geborgenheit und dörflicher Geselligkeit sowie mangelnder Wohlstand. Diese Versuchungen, sein nach seiner Meinung Gott gefälliges Leben aufzugeben, erlebt Antonius als Angriffe von Dämonen, die Matthias Grünewald in seinem Gemälde auftreten lässt.

„Antonius liegt am Boden, hat den Oberkörper leicht aufgerichtet und versucht, sich vor den Angriffen der Dämonen zu schützen. Bei diesen Monstern handelt es sich um phantastische Mischwesen verschiedener Tierarten, aber auch um Mischformen von Tier und Mensch, die ihn bedrängen und auf ihn einschlagen. Auffallend ist das gehörnte Wesen mit den verstümmelten Händen am linken Bildrand, das Antonius den Mantel entreißen will; aber auch das schildkrötenartige Ungetüm im Vordergrund, das ihm in die rechte Hand beißt, in der er den Krückstock und den Rosenkranz hält. Auf diese Weise sollte vermutlich dargestellt werden, dass die Dämonen es auf die Attribute des Heiligen abgesehen hatten, durch die er als Helfer bei Krankheiten gekennzeichnet wurde.“ (vorstehender Abschnitt aus Wikipedia)

In diesen Versuchungen erlebt Antonius (ähnlich wie Jesus am Kreuz) eine Gottverlassenheit. Die Versuchungen zielen also auf sein Vertrauen in Gott. Er droht, den Glauben zu verlieren. Dies wird deutlich durch ein Blatt Papier am rechten unteren Rand des Bildes, das auf Latein einen Ausspruch des Antonius festhält:

Wo warst Du, guter Jesus, wo warst Du? Warum bist Du nicht früher gekommen, um meine Qualen zu beenden?

Spiegelt diese Frage nicht auch das Gefühl von vielen Kranken, nicht nur von Corona-Patienten und deren Angehörigen, sondern auch von Menschen mit schweren Erkrankungen wie Krebs, von Querschnittgelähmten nach Unfällen, von Eltern totgeborener Kinder …. ?

Das Gemälde nimmt diese Frage und mögliche Antworten dazu auf. Dass es nicht die Frage des Antonius allein ist, sondern diese Frage die Zweifel von Kranken aller Zeiten aufnimmt, zeigt die Figur am linken unteren Rand. Ein Kranker, der die Zeichen der Pest (die zahlreichen rot verfärbten Beulen, die bläuliche Farbe des Leibs) und Zeichen der Mutterkornerkrankung (aufgedunsener Bauch) trägt. Es sieht so aus, als ob er Schutz hinter Antonius sucht, weil er wie dieser von den „Dämonen“ der Krankheit heimgesucht wird und darüber in Zweifel an Gottes Güte gerät.

Die Antwort auf all diese Fragen steckt in einem Detail am oberen Rand des Bildes. Gott Vater selbst erscheint am Himmel, gehüllt in einen wie Engelsflügel anmutenden Schleiermantel. Er ist rötlich gefärbt – als Zeichen der Liebe Gottes zu seinen Menschen. Er lässt uns auch in Zeiten der Zweifel und Anfechtung nicht fallen, oder besser: Er ist uns auch dann nahe, wenn wir seine Anwesenheit nicht spüren oder grundsätzlich bezweifeln.

Gott begegnet mit seiner Macht den „Dämonen“ und kann sie besiegen, so dass die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, in der uns der Blick auf Gott oft verstellt ist, wieder transparent hin auf Gott wird. So ist der Kampf der Engel Gottes gegen die „Dämonen“ des Satans bereits voll im Gange – wie über der zerfallenen Hütte des Antonius im Mittelfeld rechts zu sehen ist (interessanterweise kämpft der Engel nicht mit einem Schwert sondern mit dem Kreuz). Und Gott weist den zweifelnden Antonius mit seiner rechten Hand darauf hin!

Die Perspektive, in der wir leben dürfen, ist also - trotz der Leiden (Kreuz) - die der Auferstehung, die von Ostern.

Damit schließt sich der Kreis. Während wir auf der Alltagsseite des Altars leben (Kreuzigung), Krankheit Leiden und Tod unter dem Blick des mitleidenden Christus ertragen müssen, auch in der Verzweiflung und im Zweifel von Gottes gütigem Blick gesucht und begleitet werden, dürfen wir auf die unverlierbare Nähe Gottes vertrauen, die er uns in der Auferstehung Jesu eröffnet hat.

Auch Leiden und Tod trennen uns nicht von seiner Liebe. Der Tod hält uns nicht länger in seinem Gefängnis aus Leid fest, die Angst wird uns nicht länger lähmen.

Mit diesen Gedanken gehen wir nun in die Passions- und die darauffolgende Osterwoche. Ich wünsche Ihnen persönlich alles Gute und Gottes österlichen Segen. Bleiben Sie einander trotz Kontaktsperre und den damit verbundenen Einschränkungen verbunden, sorgen Sie so gut es geht für die Alten und Kranken in Ihrer Nachbarschaft, wir brauchen diese Zeichen der Nächstenliebe in dieser Zeit (und darüber hinaus).

Ihr Gemeindepfarrer
(derzeit weiter krankheitsbedingt a.D.)

Jörg Geißler




Dieser Artikel wurde mit Hilfe folgender Internet-Quellen verfasst:
Wikipedia - „Der Isenheimer Altar“ (www.wikipedia.de)
Das Ökumenische Heiligenlexikon – Artikel „Antonius, der Große“ (www.heiligenlexikon.de)
Die Photos stammen von Jörg Geißler

 

 
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