Papst Franziskus beim Treffen der Basisbewegungen Oktober 2014

Das herrschende Wirtschaftssystem grenzt aus, tötet und unterdrückt.
Aus der Rede des Kirchenoberhaupts der Katholischen Kirche beim Treffen der Basisbewegungen im Vatikan 27.-29. Oktober 2014.

Von Jorge Mario Bergoglio SJ (Papst Franziskus)

Ein herzliches Willkommen euch allen!
Danke, dass ihr die Einladung angenommen habt, die mas-siven sozialen Probleme von heute zu diskutieren - ihr, die ihr Ungleichheit und Ausgrenzung erleidet. Dieses Treffen ist ein wichtiges Zeichen: Ihr kommt, um vor Gott, der Kirche, vor den Völkern eine Realität auszusprechen, die allzu oft untergebügelt wird: Die Armen erleiden das Unrecht nicht bloß, sie bekämpfen es auch! Ihr gebt euch nicht zufrieden mit illusorischen Versprechungen oder Vertröstungen. Ihr wartet auch nicht brav darauf, dass Nichtregierungsorganisationen mit Sozialplänen oder Hilfsmaßnahmen auftreten, die nie ankommen. Oder falls sie ankommen, oft bloß dazu dienen, euch einzuschläfern und ruhigzustellen. Ihr setzt darauf, dass die Armen nicht länger abwarten, sondern ihre Sache selbst in die Hand nehmen: sich organisieren, die eigenen Rechte einfordern und - vor allem - diese besondere Art von Solidarität leben, die es unter den Leidenden und unter den Armen gibt. Es ist die Solidarität, die unsere herrschende Zivilisation zu vergessen scheint oder die sie zumindest allzu gerne vergessen machen möchte.

Solidarität ist ein Wort, das oft nicht gut ankommt. Wir haben es manchmal sogar zu einem geradezu unanständigen Wort gemacht, das man nicht sagen darf.
Doch es ist ein Wort, das viel mehr meint als sporadische, großherzige Gesten. Solidarität bedeutet, dass man gemeinschaftlich denkt und handelt; dass das Leben aller wichtiger ist als die Güteranhäufung einiger weniger. Solidarität bedeutet ferner, die strukturellen Ursachen von Armut und Ungleichheit zu bekämpfen, etwa wenn Arbeitsplätze fehlen, Land oder anständiger Wohnraum nicht zur Verfügung steht, wenn Sozial- und Arbeitsrechte vorenthalten werden.
Solidarität meint Aufstehen gegen die zerstörerischen Auswirkungen des Imperiums des Geldes: Zwangsumsiedlungen, leidvolle Migration, Menschenhandel, Drogen, Krieg, Gewalt und all jene Realitäten, unter denen viele von euch leiden und die zu ändern wir alle aufgerufen sind. Solidarität in ihrer tiefsten Bedeutung meint eine bestimmte Art, Geschichte zu gestalten. Und das ist es, was die sozialen Basisbewegungen leben.

Unser Treffen hat nichts mit Ideologie zu tun. Ihr arbeitet ja nicht an der Theorie. Ihr steht mit euren Füßen auf der Erde. Ihr riecht nach Armenviertel, nach kleinen Leuten, nach Einsatz!
Wir wollen, dass eure Stimme gehört wird. In der Regel hört man wenig auf euch. Vielleicht, weil eure Stimme verärgert, vielleicht weil der Protestschrei unbequem ist, vielleicht, weil man Angst vor der Veränderung hat, die ihr fordert. Doch ohne eure Mitwirkung, ohne tatsächlich an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, bewegen sich sämtliche guten Vorschläge, von denen so oft auf internationalen Konferenzen zu hören ist, nur im Reich der Ideen.
Man kann den Skandal der Armut nicht bekämpfen, indem man Strategien entwickelt, die nur beruhigen und die Armen zu stillen Kreaturen machen sollen. Wie traurig ist es anzusehen, wenn mit vorgeblich altruistischen Taten Menschen zur Passivität verleitet werden. Oder schlimmer, wenn sich hinter solch angeblich guten Taten Geschäfts- oder Privatinteressen verbergen. Menschen, die so etwas tun, würde Jesus Heuchler nennen. Wie schön ist es dagegen, wenn wir sehen, wie sich ganze Völker, vor allem ihre Ärmsten und die Jugendlichen, sich in Bewegung setzen. Ja, da spürt man den Wind der Verheißung, die Hoffnung auf eine bessere Welt. Dieser Wind soll zu einem Sturm der Hoffnung werden. Das wünsche ich.

Unser Treffen entspricht dem klaren Verlangen nach dem, das jedes Elternpaar für seine Kinder will: ein gutes Leben, das für alle zur Verfügung stehen müsste. Doch leider rückt das gute Leben für die allermeisten in immer weitere Ferne: der gesicherte Besitz von einem ausreichenden Stück Land, ein solides Dach über dem Kopf und gute, menschenwürdige Arbeit - tierra, techo y trabajo (Land, Dach über dem Kopf und Arbeit). Es ist befremdlich: Wenn ich als Papst hiervon spreche, heißt das für einige, dass dieser Papst ein Kommunist ist. Diese Rechte einzuklagen ist keine Regelwidrigkeit, sondern gehört zur Soziallehre der Kirche. Jedes einzelne dieser Rechte will ich kurz erläutern, denn ihr habt sie als Leitwörter für dieses Treffen bestimmt.

tierra - Landbesitz

Ich sehe hier Dutzende von Bäuerinnen und Bauern. Ich beglückwünsche euch, weil ihr gemeinschaftlich das Land bebaut und bewahrt. Große Sorge macht mir die Vertreibung so vieler Schwestern und Brüder, die entwurzelt werden, und zwar nicht, weil Krieg oder Naturkatastrophen die Ursachen sind. Vielmehr sind es Landraub, Entwaldung, Enteignung und Privatisierung von Wasser sowie giftige Pestizide. Das zerrüttet die ländliche Gemeinschaft und ihren spezifischen Lebensstil, ja, ihre Auslöschung droht.
Eine andere Dimension des globalen Prozesses, dem wir ausgesetzt sind, ist der Hunger. Millionen Menschen hungern aufgrund von Lebensmittelspekulationen. Außerdem werden Tonnen von Essen weggeworfen. Das ist echt ein Skandal. Hunger ist ein Verbrechen. Ernährung ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Manche von euch fordern Landreformen, um wenigstens das eine oder andere Hungerproblem zu lösen. Lasst mich euch sagen, dass in bestimmten Ländern - und hier zitiere ich das Kompendium der Soziallehre der Kirche (300) - »die Landreform nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern eine moralische Verpflichtung bildet«.
Also: Setzt euch bitte weiter für die Würde der Familien ein, für das Trinkwasser, für das Leben und dafür, dass allen die Früchte der Erde zugute kommen.

techo - ein Dach überm Kopf

Techo, das solide Dach über dem Kopf: Für jede Familie eine Wohnung!
Wir dürfen nie aus dem Blick verlieren, dass Jesus in einem Stall geboren wurde, dass seine Familie ihr Heim verlassen und nach Ägypten fliehen müsste, weil sie von Herodes verfolgt wurde. Heute gibt es so zahllose obdachlose Familien. Familie geht nicht ohne Wohnung. Doch damit das Dach über dem Kopf ein Heim werden kann, braucht es auch eine Gemeinschaft, nämlich die gute Nachbarschaft. Und es ist ebendie Nachbarschaft, von der aus man beginnt, an der großen Familie der Menschheit mitzubauen.
Heute leben wir in riesigen Städten, die sich modern, stolz und sogar arrogant geben. In Mega-Städten, die Wohlstand und zahllose Vergnügungen bieten für eine wohlhabende Minderheit. Doch Tausenden Familien wird ein festes Dach über dem Kopf verweigert. Man bezeichnet sie verharmlosend als »Menschen auf der Straße«. Es ist schon komisch, wie Bagatellisierungen durch Euphemismen in der Welt der Ungerechtigkeit Überhand nehmen. Man redet nicht eindeutig, mit klaren Worten, sondern beschönigt. Im Einzelfall mag ich mich irren, aber im Allgemeinen ist es so, dass hinter einem Euphemismus ein Verbrechen steckt.
In unseren Städten boomen die Immobiliengeschäfte, die Einkaufszentren wachsen. Wie weh tut es, dass Armensiedlungen dem Erdboden gleich gemacht werden. Die Bilder von Zwangsräumungen, von Bulldozern, die kleine Häuschen niederwalzen, sind so grausam wie Kriegsbilder. Ihr wisst, wie häufig dies vorkommt.
In den Armenvierteln, in denen viele von euch wohnen, können Werte überleben, die in den Wohngegenden der Neureichen längst vergessen sind. Die Siedlungen sind reich mit Volkskultur gesegnet. Der öffentliche Raum ist dort nicht nur ein Transitraum, sondern die Erweiterung des Heims; ein Ort, an dem man Kontakte knüpft. Wie schön sind die Städte, die das krankmachende Misstrauen hinter sich lassen. Wie schön sind die Städte, die auch in ihrer architektonischen Gestaltung viel Raum lassen, sodass es möglich ist, Verbindungen zueinander aufzubauen.
Deshalb: Keine Marginalisierung und keine Zerstörung von Siedlungen. Lasst uns dafür arbeiten, dass alle Familien ein anständiges Zuhause und dass alle Stadtviertel eine ausreichende Infrastruktur haben.

trabajo - Arbeit

Es gibt keine schlimmere materielle Armut als die, sich das tägliche Brot nicht zu verdienen und der Würde der Arbeit beraubt zu sein. Jugendarbeitslosigkeit, informelle Arbeitsverhältnisse und fehlende Arbeitnehmerrechte sind nicht unvermeidlich. Sie ergeben sich aus einer gesellschaftlichen Option, aus dem Wirtschaftssystem, das den Profit über den Menschen stellt.
Hier sehen wir die Auswirkungen einer Wegwerfkultur, die den Menschen selbst als Konsumgut betrachtet, das benutzt und dann weggeworfen werden kann. So etwas geschieht, wenn das Geld wie ein Gott im Zentrum des Wirtschaftssystems steht - und nicht die menschliche Person. Im Zentrum jeder Gesellschaft oder Wirtschaft muss der Mensch stehen. Er ist Gottes Ebenbild. Wenn der Mensch an die Seite gedrückt und der Götze Geld an seine Stelle gesetzt wird, fuhrt dies zur Umwertung aller Werte.
Weil die aktuelle Wirtschaftskrise behoben werden soll, erleben wir einen sehr schmerzlichen Wegwerfprozess: die Ausgrenzung der Jugendlichen. Millionen junger Menschen werden aus der Arbeitswelt herausgeworfen. Sie sind chancenlos. Sie sind arbeitslos.
Hier in Italien sind mehr als vierzig Prozent der jungen Leute arbeitslos. Das sind bittere Zahlen. Derzeit wird eine junge Generation geopfert, um ein System zu erhalten, in dessen Zentrum der Götze Profit steht - nicht der Mensch.
Trotz dieser Wegwerf-Unkultur haben so viele von euch, die für dieses System als überflüssig gelten, ihre eigene Arbeit erfunden; Arbeit mit all dem, was eigentlich nichts mehr zu bringen schien. Ihr habt es geschafft und schafft es immer wieder mit eurer Handwerkskunst, die Gott euch gegeben hat, mit euer Zielstrebigkeit, mit eurer Solidarität, mit eurem Gemeinschaftssinn, mit eurer Solidarwirtschaft. Lasst es mich euch so sagen: Das ist nicht bloß Arbeit, das ist auch Poesie. Danke!

Bei diesem Ratschlag habt ihr auch über Frieden und Ökologie gesprochen. Es liegt in der Logik: tierra, techo y trabajo - Land, ein Dach über dem Kopf und Arbeit - sind unmöglich, wenn wir keinen Frieden haben und den Planeten zerstören. Diese wichtigen Themen müssen die Völker und ihre Basisbewegungen diskutieren. Sie dürfen nicht allein von den Mächtigen behandelt werden.

Wir stecken mitten im Dritten Weltkrieg, allerdings in einem Krieg auf Raten. Es gibt Wirtschaftssysteme, die, um überleben zu können, Krieg führen müssen. Also produzieren und verkaufen sie Waffen. So werden die Bilanzen jener Wirtschaftssysteme saniert, die den Menschen zu Füßen des Götzen Geld opfern. Man denkt weder an die hungernden Kinder in den Flüchtlingslagern noch an die Zwangsumsiedlungen, weder an die zerstörten Wohnungen noch an die im Keim erstickten Menschenleben. Wie viel Leid! Wie viel Schmerz!

Einige sagten bei unserem Ratschlag: »Dieses System ist nicht mehr zu ertragen. Wir müssen es ändern und dann alternative gesellschaftliche Strukturen errichten.« Ja, das müssen wir tun - mit Mut und auch mit Intelligenz. Hartnäckig, aber ohne Fanatismus. Leidenschaftlich, aber ohne Gewalt. Und gemeinsam! Die Konflikte im Blick, ohne uns in ihnen zu verfangen, immer darauf bedacht, die Konflikte zu lösen, um eine höhere Stufe von Einheit, Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen.
Wir Christen haben eine Handlungsanleitung, ein revolutionäres Programm. Ich rate euch dringend, es zu lesen. Lest die Seligpreisungen (Matthäus 5, 3 und Lukas 6, 20) und lest das Kapitel 25 bei Matthäus (Gleichnis von den anvertrauten Talenten und vom Weltgericht: »Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«) Damit habt ihr ein Aktionsprogramm.

Arbeitet weiter an dieser großen Perspektive, damit unsere Träume hochfliegen und das Ganze umfassen. Von Herzen begleite ich euch auf diesem Weg. Liebe Schwestern und Brüder: Setzt euren Kampf fort. Das tut uns allen gut. Er ist ein Segen für die Menschheit.

Übersetzung: Norbert Arntz

 

 
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